Der Mensch als Erfolgsfaktor bei der Digitalisierung von Industrieprozessen

Digitalisierung Advanced Manufacturing 08:57

Autoren: Manuel Kugler (SATW), Daniel Schmid (ZHAW), Lars Sommerhäuser (EMPA), Toni Wäfler (FHNW)

 

Bei der Digitalisierung in der Industrie werden physische Prozesse, Systeme und deren Zustände digital abgebildet. Dies geschieht durch den Einsatz und die Verknüpfung von Hard- und Softwarekomponenten, wie beispielsweise Sensoren und Aktuatoren, Kommunikationsinfrastrukturen, Maschinensteuerungen und Datenbanksystemen. So erzeugen wir ein digitales Model unserer physischen Welt und verbinden beide Welten miteinander.

In der digitalen Welt erhalten gesammelte Daten, die z. B. im Rahmen eines Fertigungsprozesses anfallen, einen Kontext und werden zu Informationen, die analysiert und interpretiert werden können. Diese Informationen können genutzt werden, um Entscheidungen zu treffen und Aktionen auszulösen. Dank dem Einsatz von künstlicher Intelligenz, also komplexer Algorithmen, werden Entscheidungen zunehmend nicht mehr nur von Menschen, sondern von den digitalen Systemen selbst getroffen. Sie werden autonomer und damit oft auch mächtiger. Eine solche Digitalisierung verändert die Rolle des Menschen in Industrieprozessen. Dies kann sehr unterschiedliche Prozesstypen und menschliche Kompetenzen betreffen: Das Bedienen eines Krans, in dem wir unsere sensomotorischen Fähigkeiten benutzen; das Einhalten von Sicherheitsvorschriften, in denen wir Entscheidungen aufgrund von Regeln treffen; oder die Neustrukturierung eines Unternehmens, bei der es noch keine klaren oder uns bekannte Regeln gibt und wir unser Wissen und unsere Erfahrung einsetzen müssen, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Das Ziel der Digitalisierung in der Industrie ist meist, neue Produkte oder Dienstleistungen anzubieten oder die Produktivität zu steigern. Doch welche Rolle spielt dabei der Mensch? Wie sind die digitalen Systeme zu gestalten, dass man die Produktivität und Effizienz steigert und gleichzeitig die Leistungsfähigkeit und Zufriedenheit der Mitarbeiter erhält oder sogar erhöht? Und wie gestaltet man die Systeme so, dass sie robust und resilient sind? Darum geht es in diesem Beitrag.

Luft nach oben bei der Digitalisierung von Unternehmen

Wie eine Studie der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH zeigt, werden die Potenziale der Digitalisierung von Schweizer Unternehmen nur begrenzt genutzt (Beck, Plekhanov & Wörter 2020). Auf vergleichbare Erkenntnisse kommt auch eine aktuelle Studie der Staufen AG. In ihrer Untersuchung des Standes der Digitalisierung findet sie, dass nur jedes zweite der befragten Unternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz die Digitalisierung aktiv vorantreibt (Staufen AG, 2023). Gemäss einer weiteren Studie der KOF erreichen viele Digitalisierungsprojekte ihre Ziele nicht (Bienefeld et al., 2018). Demnach werden die Projektziele in über 70% nur teilweise und in knapp 20% gar nicht erreicht. Neuere internationale Studien (Forth et al., 2023) zeigen dasselbe Bild.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Einer ist die einseitige Fokussierung auf Technik (Kohnke, 2017). Vor diesem Hintergrund fordert die EU in einem Strategiepapier, die Digitalisierung human-zentriert (human-centric) und resilienzfördernd zu gestalten (European Commission, 2021). Was damit gemeint ist, ist im Folgenden beschrieben.

Human-zentrierte Digitalisierung

Eine human-zentrierte Digitalisierung zielt nicht darauf ab, Menschen nachzuahmen oder zu ersetzen. Vielmehr geht es darum, Menschen und Technik synergetisch miteinander zu kombinieren (z.B. Wäfler, 2021). Dabei sollen digitale Technologien menschliche Leistungsfähigkeit unterstützen und erweitern. Ob dies erreicht wird, ist massgebend davon beeinflusst, wie Technik konkret gestaltet und implementiert wird. Eine ungeeignete Gestaltung wirkt sich negativ auf die Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden aus (vgl. z.B. Ulich, 2011). Drei Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit Menschen ihr Wissen, ihre Erfahrungen, ihre Fähigkeiten und ihr Engagement einbringen (Hackman & Oldham, 1980):

  1. Erlebte Sinnhaftigkeit: Menschen müssen ihre Arbeitsaufgaben als sinnhaft erleben. Sie müssen also nicht nur wissen, was und wie sie etwas tun (know-how), sondern auch warum sie dies tun (know-why). Sobald Menschen das know-why ihres Tuns nicht nachvollziehen können, beginnen sie zu robotern: Sie schalten den Kopf ab, denken nicht mehr mit und arbeiten nur noch nach Vorgaben – ihre Arbeitsleistung muss daher wie bei einem Roboter überwacht werden.
  2. Erlebte Verantwortung: Ein gewisser Grad an Autonomie ist Voraussetzung dafür, dass sich Menschen für ihr Tun verantwortlich fühlen. Ist ihnen vollständig vorgegeben, was und wie sie etwas zu tun haben, dann erleben sich Menschen nicht als dafür verantwortlich. Vielleicht werden sie von ihren Vorgesetzten zwar verantwortlich gemacht, tatsächliche Verantwortlichkeit erlebt man jedoch nur für Vorgehensweisen, auf die man Einfluss nehmen kann. Können Menschen darauf keinen Einfluss nehmen, beginnen sie ebenfalls zu robotern.
  3. Feedback: Engagiert arbeiten Menschen nur, wenn sie in Bezug auf ihre Leistung Feedback bekommen. Dieses Feedback muss unmittelbar in der täglichen Arbeit ersichtlich sein. Man sollte jederzeit sehen können, ob man auf dem richtigen Weg ist und ob man die Ziele erreicht hat. Fehlt solches Feedback, beginnen Menschen ebenfalls zu robotern.

Ob diese drei Voraussetzungen erfüllt sind, hängt stark von der Gestaltung der Arbeitsaufgaben ab, welche den Menschen übertragen werden. Beeinflusst werden die Aufgaben nicht nur durch die Führung, sondern auch durch die Unternehmensorganisation, d. h. dessen Aufbau und interne Prozesse. Entsprechend bietet die Digitalisierung auch eine Gelegenheit, Prozesse so zu gestalten, dass diese drei Voraussetzungen erfüllt sind. Beispielsweise kann den Mitarbeitenden gerade dank digitalisierter Prozesse ein unmittelbareres Feedback zu ihrer Arbeit gegeben werden.

Resilienzfördernde Digitalisierung

Die Digitalisierung verspricht eine Steigerung der Effizienz von Unternehmen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass Prozesse und Systeme resilient gegenüber Fehlern, Veränderungen oder äusseren Einflüssen aufgesetzt werden müssen. Redundanzen und die Verfügbarkeit von Basisdaten in analoger Form sind derartig zu gestalteten, dass Grundfunktionen auch bei einem (Teil-) Ausfall der digitalen Informations- und Funktionskette noch gewährleistet sind. Ideal ist eine resilienzfördernde Digitalisierung, d.h. digitale Technologien zu nutzen, um Prozesse widerstandsfähiger zu machen und auch besser vor Cyber-Attacken zu schützen.

Dass moderne Supply Chains anfällig sind, haben nicht erst die Lieferkettenprobleme während der Pandemie gezeigt. Dies wurde auch schon zuvor deutlich, z.B. 2017 beim Cyber-Angriff auf die damals weltweit grösste Reederei Mærsk: Als Folge davon wusste niemand mehr, welche Waren sich in welchem Container auf welchem Schiff oder in welchem Hafen befinden. Hinzu kommt, dass sich fortschreitende Digitalisierung zusätzlich negativ auf die Widerstandsfähigkeit kritischer Prozesse gegenüber Störungen oder Fehlern auswirken kann (Strauß et al., 2023). Digitalisierung erhöht die Vernetzung von Systemen und Prozessen. Aufgrund dieser Vernetzung können kleine Probleme grosse Auswirkungen haben. So legte z.B. bei VW im September 2023 der Ausfall einer Netzwerkkomponente am Hauptsitz vier Fabriken in ganz Deutschland still. Bei Toyota führte im August 2023 ein Fehler im System der Teilebestellung zu einem ganztägigen Totalausfall der Produktion in Japan.

Durch die Vernetzung entsteht also ein erhöhtes Risiko für Kaskadeneffekte, welche zum Erliegen ganzer Systeme führen können (Strauß et al., 2023). Demgegenüber bedeutet Resilienz im Wesentlichen Anpassungsfähigkeit. Probleme sollen dort, wo sie entstehen, behoben werden können, damit sie sich nicht unkontrolliert ausbreiten. Unter anderem geben Zolli und Healy (2012) Gestaltunghinweise, wie Organisationen und Prozesse zu gestalten sind, um Anpassungsfähigkeit zu ermöglichen. Wichtig ist, Organisationsstrukturen modular aufzubauen, Funktionen voneinander zu entkoppeln oder auch die Bereitstellung diversifizierter Ressourcen. Derartige Massnahmen ermöglichen die Fähigkeit einer Organisation, sich an Störungen und Unvorhergesehenes anzupassen. Eine zentrale Ressource dieser Anpassungsfähigkeit ist der Mensch (z.B. Wäfler, et al., 2021). Daher muss eine Digitalisierung so erfolgen, dass Menschen zum einen Veränderungen rechtzeitig erkennen und Situationen richtig einschätzen können. Zum anderen müssen sie auch über Handlungsspielräume vor Ort verfügen, um notwendige Massnahmen zu ergreifen. Eine human-zentrierte Digitalisierung ist also auch resilienzfördernd.

Fazit

Die Digitalisierung hat das Ziel, die Produktivität zu steigern und neue Produkte oder Dienstleistungen anzubieten. Durch die Digitalisierung verändert sich aber auch die Rolle der Menschen in Industrieprozessen. Eine humanzentrierte Digitalisierung strebt keine Imitation oder Ersetzung von Menschen an, sondern eine synergetische Kombination von Menschen und Technik. Drei Voraussetzungen sind dafür entscheidend: erlebte Sinnhaftigkeit, erlebte Verantwortung und Feedback.

Die Erfahrungen aus Lieferkettenproblemen und anderen Vorfällen unterstreichen die Anfälligkeit von stark digitalisierten Prozessen und Systemen. Eine resilienzfördernde Digitalisierung erhöht deren Widerstandsfähigkeit gegen Ausfälle, Veränderungen oder Cyberangriffe. Der Mensch kann dazu einen wesentlichen Beitrag leisten.

Die SATW, insbesondere die Expertengruppe «Industrie 4.0» hilft Ihnen und unterstützt Sie gerne, wenn es darum geht, Ihre Prozesse und Systeme zu digitalisieren und dabei Mensch, Resilienz und Digitalisierung unter einen Hut zu bringen.

Literaturverzeichnis

Beck, M, Plekhanov, D. & Wörter, M. (2020). Analyse der Digitalisierung in der Schweizer Wirtschaft. KOF Studien, Nr. 153.

Bienefeld, N., Grote, G., Stoller, I., Wäfler, T., Wörter, M. & Arvanitis, S. (2018). Digitalisierung in der Schweizer Wirtschaft: Ergebnisse der Umfrage 2016. Teil 2. KOF Studien, Nr. 99.

European Commission, Directorate-General for Research and Innovation, Breque, M., De Nul, L., Petridis, A. (2021). Industry 5.0: towards a sustainable, human-centric and resilient European industry, Publications Office of the European Union.

Forth, P., Reichert, T., De Laubier, R. & Chakraborty, S. (2023). Flipping the odds of digital transformation success. BCG Global. (www.bcg.com/publications/2020/increasing-odds-of-success-in-digital-transformation)

Hackman, J.R. & Oldham, G.R. (1980). Work Redsign. Reading MA: Addison-Westley.

Kohnke (2017). It’s Not Just About Technology: The People Side of Digitization. G. Oswald & M.
Kleinemeier (Hrsg.), Shaping the Digital Enterprise. Trends and Use Cases in Digital Innovation and Transformation. (S. 69 – 91). Springer

Staufen AG (2023). Zukunft Industrie 2023, (www.staufen-inova.ch/insights/studien-und-whitepaper/studie-digitalisierung/).

Ulich, E. (2011). Arbeitspsychologie. Stuttgart: Schäffer, Poeschel.

Wäfler T. (2021). Progressive Intensity of Human-Technology Teaming. Proceedings of the 5th International Virtual Conference on Human Interaction and Emerging Technologies, IHIET 2021, August 27–29, 2021, France, pp. 28-36.

Wäfler, T., Gugerli, R. & Nisoli, G. (2021). Integrating Safety-II into Safety Management. Zürich: vdf Hochschulverlag.