In der Schweiz, aber auch anderen westlichen Ländern gibt es seit über zehn Jahren regelmässig Phasen des Medikamentenmangels, da viele Medikamente oder deren Wirkstoffe und Zwischenprodukte fast nur noch in China oder anderen Billiglohnländern wie Indien hergestellt werden. Diese Engpässe wurden aber Anfang 2020 durch die Corona-Pandemie auch einem breiteren Publikum bewusst, weil der Warenfluss zwischen China und dem Rest der Welt empfindlich gestört war.
Typisches Beispiel war das Benzodiazepin Midazolam (Dormicum®), das wegen seiner krampflösenden Wirkung bei der Intubierung von Covid-19-Patienten eingesetzt wird und zeitweise knapp war. Engpässe gab es auch bei Epilepsie- und Parkinsonmedikamenten, bei Mitteln gegen Bluthochdruck, bei Medikamenten in der Geburtshilfe, Antibabypillen oder Antibiotika. Bei den Antibiotika war die Situation derart kritisch, dass zeitweise auf Produkte mit höheren Nebenwirkungen ausgewichen werden musste. Ausserdem besteht bei den Antibiotika das Problem der multiresistenten Keime, laut WHO ein «langsamer Tsunami», der aber das Ausmass der Corona-Krise übersteigen wird. Der Medikamentenmangel betraf übrigens nicht nur «alte» Medikamente und Generika. Auch Remdesivir, ein neues, ursprünglich gegen das Ebolavirus entwickletes Nukleotidanalog war zeitweise nicht verfügbar, da die USA ganze Produktionsbatches für sich reservierten. In der Folge wurde in Deutschland sogar die Möglichkeit einer Zwangslizenz gegen den Patentinhaber diskutiert, um Remdesivir in Europa herzustellen. Das wurde aber als zu massiver Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit schliesslich verworfen.
Auf Bundesebene wird in der Schweiz eine Datenbank mit meldepflichtigen Wirkstoffen für lebenswichtige Humanarzneimittel geführt. Auf Privatinitiative von Enea Martinelli (Chefapotheker der Spitäler FMI AG) hin wird zudem eine andere Liste geführt, die alle nicht verfügbaren Medikamente auflistet, darunter auch solche, die nicht lebenswichtig sind, z.B. das Schmerzmittel Paracetamol oder das Mittel Prasugrel gegen Blutgerinnsel.
Der Grund für diese Engpässe ist einfach. Um Kosten zu senken, wurde die Produktion von Medikamenten der Grundversorgung und vor allem von Generika in Länder mit den tiefsten Kosten verlegt. Durch Fusionen und Übernahmen wurde so die Produktion von gewissen Wirkstoffen auf einen einzigen Standort und Hersteller in Fernost konzentriert – mit weitreichenden Konsequenzen. So wurde zum Beispiel 2015 durch eine grosse Explosion bei einem Hersteller von Rohmaterialien in der Provinz Hebei die Verfügbarkeit des Antibiotikums Piperacillin/Tazobactem weltweit empfindlich gestört. Die Schweiz und andere westlichen Ländern nehmen nicht nur das Risiko von Produktionsausfällen wegen betrieblichen Problemen in Kauf, sie sehen sich auch aus eigenem Verschulden mit einer Monopolsituation konfrontiert.
Das Problem des Medikamentenmangels ist alles andere als neu: Bereits Ende November 2019, also vor der Pandemie, wurde ein Höchststand an zeitweise nicht verfügbaren Medikamenten gemeldet. In mehreren Ländern und auch in der in Schweiz wurde auf politischer Ebene verlangt, die Produktion von wichtigen Medikamenten wieder in die Schweiz, respektive nach Europa zu verlagern. In diesem Zusammenhang wurden Schweizer Firmen wie Lonza, Siegfried oder Dottikon kolportiert. Es ist offensichtlich, dass sich eine über Jahrzehnte schleichende Entwicklung nicht einfach umkehren lässt. Schon nur die Produktionskosten für eine gewinnbringende Produktion in der Schweiz oder Europa zu erreichen oder die chemischen und biotechnischen Kapazitäten und Kompetenzen wieder aufzubauen, sind zwei echte Knacknüsse.
Aber die Chancen einer Krise sollten niemals verpasst werden! Wertschöpfungsketten und Produktionsmethoden müssen seit langem hinsichtlich Nachhaltigkeit und Effizienz hinterfragt werden, aber die Industrie verharrt dennoch auf überholten, veralteten Ansätzen und Methoden. Sie scheut sich, Neues einzusetzen und ausgetretene, aber vertraute Pfade zu verlassen. Das ist verständlich wegen der teuren, nur teilweise abgeschriebenen Anlagen und der Entwicklungskosten für neue Ansätze. Aber schwindende Ressourcen und die Notwendigkeit nachhaltiger Produktionsmethoden verlangen nach einem längst überfälligen Umbruch in der chemischen und pharmazeutischen Industrie.
Die gute Nachricht ist, dass es eine ganze Palette von neuen Methoden und Technologien wie Flow Chemistry, Chemostat, eine Kombination der Biokatalyse mit Transition-Metallkatalyse, Mikroreaktortechnik, Directed Evolution, Anwendung der künstlichen Intelligenz in der Chemo- und Biosynthese sowie Process Data Management Systeme bereits zur Verfügung stehen. Aber eine Umsetzung bedingt eine bereichsübergreifende Zusammenarbeit über viele Disziplinen. Die SATW hat letztes Jahr gemeinsam mit der Swiss Biotech Association eine Initiative «Industrial Biotechnology» ins Leben gerufen und im November 2020 ein erstes Networking durchgeführt, um das Umfeld zu erfassen und eine erste interaktive Plattform zu schaffen. Diese soll bereits im 1. Quartal 2021 aufgebaut und betrieben werden. Die Förderung der bereichsübergreifenden Zusammenarbeit wird auch im Rahmen eines möglichen «Innosuisse Flagship Thema» erwogen. Wir halten Sie auf dem Laufenden.
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