Sie erforschen, wie gut sich Lebensmittelabfälle verwerten lassen, die bei der Herstellung von Lebensmitteln anfallen. Lohnt es sich überhaupt, diese Stoffe zu nutzen statt zu entsorgen?
Auf jeden Fall. In der Schweiz werden jedes Jahr 2,8 Millionen Tonnen an Nahrungsmitteln verschwendet. Ein Drittel davon alleine bei der Verarbeitung von Lebensmitteln. Das sind zum grössten Teil sogenannte Nebenströme. Das ist enorm – so verpufft etwa 1 Million Tonnen CO2 umsonst. Diese Zahlen zeigen, wie gross der Effekt auf die Umwelt wäre, wenn wir alle Stoffe, die während der Verarbeitung anfallen, nutzen würden. Er ist gleich gross, wie wenn etwa ein Zehntel der Schweizer Autoflotte aufgelöst würde.
Demnach wird der Abfall unterschätzt.
Gut, was ist Abfall? Etwas, das man loswerden will, weil es nutzlos ist. In diesem Sinne sind Nebenströme aus der Lebensmittelindustrie kein Abfall, sie werden nur oft zu Abfall abgewertet, etwa wenn sie zur Biogasanlage gebracht werden. Nur relativ selten verarbeitet man sie zu Lebensmitteln, zu ihrer hochwertigsten Form. Das ist schade, denn diese Nebenströme sind wertvolle Rohstoffe und manchmal sind sie gar nährstoffreicher als das eigentliche Produkt.
Haben Sie ein Beispiel für ein Produkt, das weniger Nähstoffe hat als sein Nebenstrom?
Weissbrot. Bei der Produktion von Weissmehl geht ein Fünftel des Korns verloren, insbesondere Faserstoffe und Mineralien in der Weizenkleie – ausgerechnet der gesündeste Teil des Korns. Nur bei sehr pestizidbelastetem Getreide ist die Verwertung der äusseren Schichten gesundheitlich nicht sinnvoll. Aber solche Anbaumethoden sollten ohnehin vermieden werden.
Sie und Ihr Team erforschen im Rahmen der Food 4.0-Initiative der SATW, wie diese Nebenströme besser genutzt werden können. Wie soll das gelingen?
Das Problem ist oft, dass die Produzent:innen nicht wissen, welches Potenzial in den Nebenströmen steckt und wie weit es sinnvoll ist, diese zu verarbeiten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Molke kann man unverarbeitet lassen und einfach so trinken. Um sie für Konsument:innen attraktiver zu machen, kann man sie aber auch weiterverarbeiten, ihr Aroma beimischen oder einen Shake daraus machen. Man kann sie auch noch hochgradiger verarbeiten und sie in Protein und Laktose aufspalten - das Protein verwendet man als Proteinpulver für Sportler:innen, die Laktose für Babynahrung. Ich und mein Team entwickeln nun ein Modell, das berechnet, wie hoch das ökologische Sparpotenzial ist, wenn man Nebenströmen verwertet und wie viel Food Waste man damit vermeidet. Anhand dieser Ergebnisse können die Produzenten ihre Systeme ökologisch optimieren und mehr Wertschöpfung generieren.
Wenn man weiss, wie viele Nebenströme fortgeworfen werden, fragt man sich, weshalb dies nicht schon längst erforscht wurde.
Man muss sehen: Heute sind sehr viele hochentwickelte Produkte auf dem Markt, die nur durch einen sehr ausgeklügelten Herstellungsprozess zustande gekommen sind. Die Hersteller haben viel in ihre Entwicklung investiert. Für sie stand meist nicht im Vordergrund, diese Prozesse auch noch auf die Umweltverträglichkeit hin zu optimieren. Nun, da die Ressourcen zunehmend knapper werden und die ökologische Belastbarkeit unseres Planeten überschritten ist, wird die Umweltverträglichkeit immer wichtiger.
Wie gehen Sie ihre Forschung an?
Wir entwickeln unser Modell anhand der Verarbeitung von Kakao zu Schokolade. Wir messen etwa, wie viel Kakaopulpe und -schale anfällt, wie viel Energie und Wasser benötigt oder welcher Strommix dafür genutzt wird. Mit diesen Daten füttern wir unser Modell. Grundsätzlich können wir auch die Daten anderer Prozesse in unser Modell eingeben, zum Beispiel von der Verarbeitung von Milch oder von pflanzlichen Proteinen. So kann unser Modell am Ende zur Bewertung verschiedenster Prozesse eingesetzt werden. Schokolade haben wir ausgewählt, weil sie wie Kaffee zu jenen Produkte gehört, welche die Umwelt am stärksten belasten. Da kommt es auf jedes Gramm an.
Was fordert Sie bei Ihrer Forschung besonders heraus?
Die Hersteller davon zu überzeugen, ihre Daten freizugeben und sie der ganzen Branche zugänglich zu machen. Viele Firmen haben geheime Rezepturen entwickelt und sie wollen natürlich nicht, dass die Konkurrenz davon erfährt. Wir müssen die Hersteller deshalb davon überzeugen, dass es für sie von Vorteil ist, wenn sie uns ihre Daten in anonymisierter Form überlassen und im Gegenzug von Daten anderer Unternehmen profitieren können. Dafür müssen sie uns nicht ihre Geheimrezepturen überlassen, sondern nur jene Daten, die für eine optimale Verwertung der Nebenströme und für die Umweltbeurteilung relevant sind. So können wir mit unserer Forschung einen Mehrwert für die ganze Branche schaffen.
Wie kann eine Hersteller:in Ihr Modell konkret nutzen?
Im besten Fall kann ein Unternehmen für jeden Verwertungsweg bestimmen, wie viele Umweltbelastungspunkte pro Kilo anfallen - vom Weg zur Biogasanlage bis zum Weg zum hochwertigen Lebensmittel. So kann es die ökologisch und finanziell beste Lösung finden.
Wo fallen die meisten Nebenströme an?
Besonders viel fällt bei der Verarbeitung von Getreide an. Weil die Schweiz viel Käse und Butter produziert, fallen bei uns auch Riesenmengen an Molke und Buttermilch an. Nebenströme entstehen auch bei der Verarbeitung von Fleisch, Obst, Gemüse oder Ölsaaten. Wenn zum Beispiel die Kerne von Sonnenblumen oder Kürbissen ausgepresst sind, bleibt der sogenannte Presskuchen übrig. Oft wirft man ihn weg, dabei ist er für die Ernährung höchst interessant – er ist reich an Proteinen und Fasern.
Nur: Wie bringt man die Konsument:innen dazu, solche Produkte in irgendeiner Form zu kaufen?
Das ist die Herausforderung. Ökologisch ist das Potenzial der Nebenströme riesig, denn die Nahrungsmittelproduktion belastet die Umwelt massiv. Für den Hersteller muss es sich aber auch auszahlen, dieses Potenzial zu nutzen. Heute stellt eine steigende Zahl von Startups Produkte aus Nebenströmen her. So wird zum Beispiel Okara, das Nebenprodukt aus der Sojamilchherstellung, zu einem attraktiven Fleischersatzprodukt umgewandelt oder altes Brot zum Bierbrauen verwendet. Dadurch entsteht dann Brotbier. Dieses ist geschmacklich so interessant, dass die Kunden bereit sind, einen höheren Preis dafür zu bezahlen. Es ist also möglich, aus Nebenströmen auch einen finanziellen Mehrwert zu schaffen und Konsument:innen zu finden, die diese Produkte wertschätzen.