Die Anzahl Menschen, die weltweit jeden Tag zusätzlich mit Nahrung, Wasser oder Energie versorgt werden müssen, entspricht etwa der Einwohnerzahl der Stadt Genf. Viele Rohstoffe sind knapp und die Situation wird sich in Zukunft verschärfen. Wir haben über einige Engpässe im Zusammenhang mit der Biotechnologie bereits berichtet (siehe Berichte zu: Corona-Pandemie, Plastik-Krise oder Vom Pottwal zur Biotechnologie).
Die Umstellung auf eine nachhaltige Wirtschaft und nachhaltige Wertschöpfungsketten macht die Situation noch komplexer. Die Nachfrage nach Rohstoffen, die für diese Umstellung zwingend notwendig sind, wird das Angebot übersteigen. So erfordert z. B. die Umstellung von Erdöl auf die Versorgung mit erneuerbaren Energien Unmengen an Metallen wie Lithium, Mangan, Nickel, Kobalt und vor allem Kupfer. Daher wird Kupfer auch als "das neue Öl" kolportiert. Kritische Stimmen behaupten gar, die geplante Energiewende drohe an der "grössten Versorgungslücke aller Zeiten" zu scheitern.
Bei all diesen düsteren Prognosen gilt es etwas Entscheidendes im Auge zu behalten: Es bieten sich Chancen für Hochschulen und innovative Unternehmen, die den Mut haben, früh einzusteigen und sich in diesen Entwicklungsbereichen zu engagieren.
Das gilt auch für einen anderen absehbaren Engpass, über den wir hier berichten möchten und der einerseits einer breiten Öffentlichkeit nicht bekannt ist, von der Tragweite her aber höchste Priorität haben müsste. Die Rede ist von Phosphor.
Phosphor – Grundbaustein für pflanzliches und tierisches Leben
Neben den industriellen Anwendungen ist Phosphor vor allem ein absolut elementares und unersetzliches Element für das Leben: ein wichtiger Bestandteil unserer Knochen, Zähne, der DNA, Energiespeicher und vieles mehr. Vor allem aber ist Phosphor in der intensiven Landwirtschaft unersetzlich. Während Rohstoff-Engpässe in vielen Fällen durch Technologien, Prozesse oder Produkte ersetzt werden können, ist das bei Phosphor nicht möglich. In der Landwirtschaft gibt es keine Alternative für diesen Rohstoff. Der Preis für Phosphor hat sich in den letzten Jahren daher verfünffacht. Wir sind abhängig davon, Rohphosphate abbauen zu können. Diese Phosphaterz-Reserven beschränken sich aber auf fünf Länder – Marokko, Jordanien, Südafrika, China und die USA –, wobei 75 Prozent der bekannten abbaubaren Vorkommen in Marokko liegen. Im Phosphat-Abbau wird ein Peak zwischen 2030 und 2040 erwartet. Um die Versorgung der wachsenden Erdbevölkerung sicherzustellen, wird die Phosphat-Rückgewinnung zu einem unumgänglichen Schritt.
Kläranlagen sind eine ergiebige Phosphatquelle. In der Schweiz fallen pro Jahr fast 200'000 Tonnen Klärschlamm an. Dieser (entwässerte) Klärschlamm enthält etwa 1 Prozent Phosphor. In der Schweiz ist die Verwendung von Klärschlamm als Dünger seit 2006 aufgrund der Verunreinigungen mit problematischen Schwermetallen untersagt und muss deshalb verbrannt werden (siehe Webseite des Bundesamts für Umwelt, BAFU). Die Klärschlammasche enthält gemäss einer BAFU-Studie 6 Prozent Phosphor, was jährlich etwa 6'000 Tonnen rückgewinnbarem Phosphor entsprechen. Phosphor kann auch durch Fällung, z. B. als Eisenphosphat aus dem Abwasser, eliminiert werden – aber dieser müsste wiederum von toxischen Schwermetallen gereinigt werden.
Phosphor-Rückgewinnung mit mikrobiellen Brennstoffzellen
Die Arbeitsgruppe um Fabian Fischer vom Institute Life Technologies an der Westschweizer Fachhochschule (HES-SO) in Sitten geht einen anderen Weg: Er und sein Team entwickeln mikrobielle Brennstoffzellen und benutzen die aus dem Abwasser gewonnene elektrische Energie für die Phosphor-Rückgewinnung. Auf diese Weise kann das Phosphor direkt aus dem Klärschlamm gewonnen und das Problem der Verunreinigung mit Schwermetallen umgangen werden. Die mikrobielle Brennstoffzelle liefert Energie, Elektronen und Protonen, um Phosphate in der Form von Struvit (NH4MgPO4) mit einer Ausbeute von über 80 Prozent zu gewinnen. Das Verfahren wurde bereits in kleineren Pilotanlagen erfolgreich getestet. Die chemische Reaktion lautet: H3PO4 + MgCl2 + NH4OH → NH4MgPO4 + 2HCl + H2O.
Der stabile, kontinuierliche Betrieb solcher bioelektrischen Kaskadenreaktoren ist eine Herausforderung. Die Dynamik der Biofilme und Prozessparameter müssen mit rechnergestützter Mess- und Regeltechnik im optimalen Bereich gehalten werden. Übrigens lassen sich mit mikrobiellen Brennstoffzellen auch andere Metalle rezyklieren. Mikrobielle Brennstoffzellen oxidieren organisches Material durch mikrobielle Aktivität und erzeugen so auch einen nutzbaren schwachen Strom, der mit Spannungswandlern hochgesetzt in handelsübliche Batterien einspeichert werden kann.
Mit Biotechnologie-Anwendungen Engpässe bewältigen
Biotechnologie spielt eine wichtige Rolle bei der Bewältigung von Engpässen, wofür Phosphor ein gutes Beispiel darstellt. Weitere Beispiele zeigen, wie vielfältig die betroffenen Industriebereiche sind: So sind die biotechnologisch hergestellten Fleisch-, Eier-, Honig- oder Kakaoersatzprodukte bereits auf dem Markt oder kurz vor der Einführung. Hermès vermarktet seit diesem Jahr eine vegane, lederfreie Tasche auf Pilzbasis. Die Baubranche testet Biozement und Bioziegel und so weiter.
Die Arbeitsgruppe “Industrial Biotechnology”, die gemeinsam von der SATW und der SBA (Swiss Biotech Association) ins Leben gerufen wurde, beschäftigt sich mit der industriellen Anwendung der Biotechnologie. Die Schweiz sollte an den Erfolg der roten Biotechnologie (Biopharmazeutika) anknüpfen und eine starke, gut vernetzte industrielle Biotechnologie-Gemeinschaft aufbauen, die eine klare Vision für die Interessengebiete, eine strategische Forschungs- und Bildungsagenda und einen Aktionsplan hat. Kommentare sind wie immer sehr willkommen!
Hans-Peter Meyer (Expertinova AG), SATW Mitglied, Leiter Fachgruppe Biotechnologie