Das Interview wurde von Prof. Daniel Gygax, Leiter der SATW Themenplattform Technologien für die Präzisionsmedizin geführt.
Gideon Hönger und ich sind per Du miteinander. Ich war Studiengangleiter als du das Studium Molecular Life Sciences an der FHNW berufsbegleitend begonnen hast. Du arbeitetest als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Departement Biomedizin am Zentrum für Lehre und Forschung des Universitätsspital Basel. Als Professor für Bioanalytik durfte ich dich bei Projektarbeiten sowie auf deinem Weg von der Bachelorabreit bis zum Doktorat begleiten. Die paar Hinweise von mir auf deinen beruflichen Werdegang lassen darauf schliessen, dass du einen eigenen Weg gegangen bist. Kannst du diesen Weg für uns kurz darstellen?
Ja, zuerst war ich Pharmabiologie-Laborant, dann Primarlehrer und dann HIV-Testentwickler in der Diagnostikabteilung der Hoffmann-La Roche, bevor ich am Unispital Basel in der Abteilung Transplantationsimmunologie die Stelle meines Lebens fand… Das Thema Organ-Kompatibilität/Inkompatibilität, eigen/fremd, ähnlich/unähnlich interessierte mich ausserordentlich. Ich durfte die Weiterentwicklung der immunologischen Tests im Kontext der Transplantation in die Hand nehmen. Es war eine überaus spannende Zeit, verbunden mit beruflichen Aufenthalten in Kanada und den USA und der Etablierung und teilweise schweizweiten Standardisierung neuer Tests zur genaueren Einschätzung des immunologischen Risikos für Nieren-Empfänger. Um die mir anvertrauten Themen tiefer zu verstehen und meine Aufgaben professioneller auszuführen, begann ich parallel zur Arbeit zu studieren, zuerst an der Hochschule für Life Sciences der Fachhochschule Nordwestschweiz in Muttenz, dann an der Universität Basel.
Ich habe gelesen, dass die Transplantation eines Organs von einem Spender auf einen Empfänger ein äusserst facettenreicher Prozess sei, der Patienten mit Organversagen im Endstadium eine zweite Lebenschance gebe. Vermutlich stehen am Anfang einer Transplantation wichtige Fragen, die es zu klären gilt.
In der Tat, denn es geht insbesondere darum, ein Spenderorgan dem aus immunologischer Sichtweise allerbesten Empfänger zuzuteilen, was nur durch akribische diagnostische Vortests und deren folgerichtigen Interpretation ermöglicht wird. Und genau dafür bin ich zuständig.
Weshalb ist diese sogenannte molekulare Übereinstimmung zwischen dem Körpergewebe des Organempfängers und dem fremden Organ des Spenders so wichtig?
Unser Immunsystem ist darauf spezialisiert, Parasiten aufzuspüren und zu beseitigen. Jede Körperzelle verfügt über ein Alarmsystem, welches den zirkulierenden Immunzellen mitteilt, ob die Proteine der Zelle oder deren Umgebung körpereigen oder körperfremd sind. Wie tut es das? Das Alarmsystem zerstückelt laufend Proteine aus der Umgebung oder dem Innern der Zelle und präsentiert Teile davon – Peptide – auf sogenannten HLA-Molekülen, die auf der Zellmembran sitzen. Dort werden sie laufend von den Rezeptoren spezialisierter Immunzellen (T-Zellen) gescannt. Erkennt ein Rezeptor ein körperfremdes Peptid, wird die betreffende Körperzelle entweder vernichtet oder es werden dagegen Antikörper gebildet. Die Stärke des Alarmsystems ist, dass sehr viele unterschiedliche Peptide präsentiert und erkannt werden können, deshalb sind wir auch nur selten krank. Um sehr viele unterschiedliche Peptide präsentieren zu können, verfügen wir über mehrere HLA-Molekül-Typen, die von Mensch zu Mensch unterschiedlich sind. Deshalb können wir als Gesamtpopulation überleben. Aber: Bei einer Transplantation ist dieses superwichtige System – immunologisch gesehen – das Hauptproblem: Die HLA-Moleküle des Spenders sind ebenfalls Proteine, werden also ebenfalls zerstückelt, und als Peptide auf HLA-Molekülen des Organempfängers präsentiert. Das hat zur Folge, dass die Immunzellen des Patienten diese als körperfremd taxieren – schliesslich sind sie strukturell andersartig – und angreifen, insbesondere mittels durch Immunzellen des Typ B gebildeten Spender-spezifischen Antikörpern (siehe Bild). Dies führt leider zur Vernichtung des Spendergewebes und zur Abstossung des Transplantats. Eine Transplantation ohne gleichzeitige Einnahme von Medikamenten, welche das Immunsystem unterdrücken, ist deshalb undenkbar, es sei denn, der Spender ist ein eineiiger Zwilling.
Worin besteht nun das Geheimnis der Unterscheidung von körpereigenen und körperfremden Peptiden durch die Immunzellen?
Im Knochenmark, wie auch in der Thymusdrüse, lernen Immunzellen sehr früh in unserer Entwicklung was körpereigen und was körperfremd ist: Sämtliche im Körper vorhandene Proteine werden als Peptide an die körpereigenen HLA-Moleküle gebunden und den jungen Immunzellen “gezeigt": Jede Immunzelle prüft, ob ihr spezifischer Scanner, nämlich der zelleigene Rezeptor, strukturelle Bestandteile der körpereigenen Proteine erkennen kann. Bei denjenigen, wo dies der Fall ist, geschieht etwas Erstaunliches: Sie begehen freiwillig Selbstmord! Dies macht jedoch absolut Sinn: So wird sichergestellt, dass das Immunsystem nicht den eigenen Körper angreift! Es überleben also nur Zellen, welche einen spezifischen Rezeptor gegen potenziell fremde Proteine besitzen. Um alle möglichen fremden Proteinstrukturen abzudecken, braucht es viele Milliarden unterschiedliche Rezeptoren. Deshalb wird in dieser frühen Entwicklungsphase ein ganzes Heer an Immunzellen bereitgestellt; jeder Zellklon ist mit einem anderen Rezeptor ausgestattet. Einzelne davon werden uns später das Leben retten, weil sie genau den richtigen Rezeptor haben, welcher - um ein Beispiel zu nennen - das auf einem HLA-Molekül präsentierte Virus-Peptid erkennt und die Virus-befallene Zelle tötet.
Kannst du uns noch erläutern, wie genau sich HLA-Peptide des Spenders von denen des Empfängers unterscheiden und gibt es einen Zusammenhang zwischen der Anzahl an unterschiedlichen HLA-Strukturen und der Abstossungswahrscheinlichkeit des Organs?
In der Tat unterscheiden sich einzelne HLA-Proteine bezüglich ihrer Aminosäuren-Zusammensetzung, ihrer dreidimensionalen Struktur, wie auch bezüglich der präsentierbaren Peptide äusserst stark. Die Anzahl dieser Unterschiede zwischen Spender- und Empfänger-HLA korreliert klar mit dem Risiko einer immunologischen Abstossung. Allerdings ist nicht jeder Unterschied gleichwertig. Eines der Themen, an welchen ich forschungsmässig beteiligt bin, ist die Charakterisierung spezifischer HLA-Unterschiede bezüglich ihres klinischen Gefährlichkeitsgrades im Kontext einer Transplantation. Zentral dabei ist die Frage, welche Unterschiede überhaupt “entdeckt” werden können, da bestimmte Peptide chemisch mehr oder weniger gut auf entsprechende Empfänger-HLA Moleküle geladen werden können.
Kannst du uns einen Überblick verschaffen, mit welchen Methoden die Passgenauigkeit eines Spenderorgans auf der Ebene von Zellen und Molekülen bestimmt wird?
Wir benutzen insbesondere drei Methoden dazu. Zur Typisierung der genannten HLA-Moleküle untersuchen wir die HLA-Gene mittels einer hochauflösenden Sequenzierungs-Methode (NGS), deren Resultat, der genetische Code der HLA-Gene, wir in die HLA-Protein-Struktur übersetzen. Die Untersuchung wird sowohl beim Empfänger wie beim Spender gemacht und danach eruieren wir die Unterschiede.
Eine zweite Methode dient der Suche nach HLA-Antikörpern. Wir müssen verhindern, dass durch das Transplantat andere HLA-Strukturen nochmals in den Körper gelangen, gegen die der Körper des Empfängers bereits immunologische Gedächtniszellen gebildet hat. Diese können nach Schwangerschaften, Transfusionen oder früheren Transplantationen entstehen. Dazu inkubieren wir das Serum des Empfängers mit einem Set künstlicher Kügelchen, welche mit den 200 häufigsten HLA-Molekülen bestückt sind. Sind Antikörper vorhanden, binden diese an die entsprechenden Strukturen und es wird ersichtlich, ob sie spenderspezifisch sind.
Schliesslich simulieren wir die Transplantation noch im Reagenzglas mit einem sogenannten Kreuztest. Hier verwenden wir die effektiven Spenderzellen, die wir aus dem Blut gewinnen. Diese mischen wir mit Empfängerserum und messen, ob und wie viele Antikörper Spender-HLA-Molekülstrukturen erkennen. Dieser Test sollte negativ ausfallen.
Unser Gespräch drehte sich bisher um die molekularen Aspekte, die bei einer Organtransplantation eine wichtige Rolle spielen. Du hast uns Einblicke in die komplexen immunologischen Zusammenhänge gewährt und aufgezeigt, dass das Verständnis dieser Zusammenhänge eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Durchführung der Organtransplantation und der weiterführenden Behandlung der Organempfänger ist. Ich möchte noch einen weiteren wichtigen Punkt ansprechen: Kannst Du uns sagen, wie viele Menschen letztes Jahr in der Schweiz ein Spenderorgan erhalten haben und wie viele auf eines warten?
Im Jahr 2023 haben in der Schweiz 565 Menschen ein Organ (Lunge, Herz, Leber, Niere, Bauchspeicheldrüse, Dünndarm) erhalten. Ende 2023 warteten jedoch immer noch 1391 Personen auf mindestens ein Organ, und 92 Menschen sind 2023 auf der Warteliste gestorben.
Im Kontext mit den steigenden Krankheitskosten werden in der Gesellschaft natürlich auch die Kosten von Transplantationen diskutiert. Weshalb ist deiner Meinung nach eine Transplantation trotz der hohen Kosten für die Betroffenen, deren Umfeld und die Gesellschaft wertvoll?
Lass mich dies anhand einer Nierentransplantation aufzeigen. Im Vergleich zum Verbleib an der Dialyse sind die Überlebenschancen von Transplantierten viel höher. Zudem ist die Lebensqualität nach der Transplantation - im Vergleich zum Leben davor, in welchem ständig wiederkehrende Blutreinigungen am Dialysegerät den Alltag prägen - eine völlig andere. Die meisten Transplantierten können also wieder ein nahezu normales Leben führen. Die durch die Krankenkassen und damit letztendlich durch die Gesellschaft getragenen Kosten jahrelanger Dialysebehandlungen sind massiv höher als die Kosten einer Transplantation inklusive der dazugehörigen Medikamente für die Immunantwortunterdrückung.
Zum Abschluss unseres Gesprächs sollten wir einen Blick in die Kristallkugel wagen. Sind irgendwelche Entwicklungen am Forschungshorizont erkennbar, welche die Lebensqualität von Menschen mit einem neuen Organ weiter verbessern werden?
Für die Verbesserung der Lebensqualität der Organempfänger ist es essentiell, dasjenige Organ auszuwählen, welches auf der molekularen Ebene die grösste Übereinstimmung zeigt und somit ein möglichst geringes Abstossungs-Risiko birgt. Strukturanalysen der HLA-Moleküle sowie verbesserte bioinformatische Werkzeuge ermöglichen es, dieses Matching noch mehr zu verfeinern.
Das verbleibende Risiko einer Abstossung kann durch eine perfekt angepasste individuelle Dosis der Immunsuppression verringert werden. Die Individualisierung der Dosierung hängt von der Anzahl der strukturellen Unterschiede und den präsentierbaren Peptiden ab, die wir – wie beschrieben – ebenfalls bestimmen können.
Es hat mich ausserordentlich gefreut, mit dir dieses Gespräch über die Bedeutung der molekularen Zusammenhänge bei der Organtransplantation zu führen. Es ist deutlich geworden, warum der Empfängerkörper eines fremden Organs, dieses nicht widerspruchslos akzeptiert. Deine Erläuterungen haben zudem aufgezeigt, dass die molekulare Diagnostik ein wesentlicher Teil der Erfolgsgeschichte der Transplantation ist. Dank dem über lange Jahre erworbenen Wissen und den erarbeiteten Praktiken in der Diagnostik gelingt es immer besser, ein entsprechendes Spenderorgan dem bestmöglichen Empfänger zuzuteilen und den Verlauf nach der Transplantation bestmöglich zu monitorisieren. Ich bedanke mich herzlich für das Gespräch.
Gideon Hönger ist ursprünglich Pharmabiologielaborant und Primarlehrer.
Seit 2000 ist er als Forscher und Entwickler im Labor für Transplantationsimmunologie und
Nephrologie im Departement Biomedizin der Universität Basel tätig.
Die Hauptthemen vieler publizierten Studien sind: Charakterisierung von Spender-spezifischen Antikörpern, Alloimmunisierung während der Schwangerschaft, HLA-Matching zwischen Organspendern und Organempfängern auf der Epitop-Ebene.
Im Jahr 2022 absolvierte er seinen Doktoratabschluss an der Universität Basel, und 2023 erlangte er das Europäische Diplom “Spezialist Histokompatibilität und Immunogenetik”.
Zusätzlich zu seiner Forschungstätigkeit ist er Co-Fachverantwortlicher im Labor für HLA-Diagnostik und Immunogenetik in der Labormedizin des Unispitals in Basel.