Von 15,9% Frauen in der ICT im Jahr 2010 haben wir in zehn Jahren nur zwei kleine Prozent hinzugewonnen, um 2020 kaum 18% zu erreichen. Nun sagen Sie vielleicht: Na und? Wenn Mädchen und Jungs verschiedene Interessen haben, wo ist das Problem? Wenn wir die Scheinargumente über die verschiedenen Gehirnfunktionen verwerfen, gelangen wir zu der folgenden Feststellung: Der Fortbestand von Gendermodellen und unbewussten Stereotypen gehört zu den wichtigsten Faktoren, die diese unterschiedlichen Entscheidungswege erklären. Bei einem mit den Jungs identischen Niveau unterschätzen die Mädchen ihre Fähigkeiten. Ohne es zu merken, haben sie verinnerlicht, dass „Mathematik nichts für Mädchen ist“, selbst wenn sie sie mögen und Talent in diesem Bereich haben: Man nennt dies „die Drohung des Stereotyps“. Sie trauen sich weniger zu und haben, manchmal schon ab dem Alter von zwölf Jahren (!), die genderspezifischen Erwartungen an ihr Geschlecht verinnerlicht, die sie für inkompatibel mit einer wissenschaftlichen Ausbildung halten, wie die Arbeiten der Forscherin Farinaz Fassa von der Universität Lausanne gezeigt haben.
Folge: Die Mädchen wenden sich massiv von den IT- oder technikorientierten Ausbildungsprogrammen ab.
Schon allein, weil der Schweiz, laut einer neuen Studie des ICT Journal, schon in weniger als zehn Jahren mehr als 36’000 Informatiker/innen fehlen werden. Das Argument des Fachkräftemangels ist zentral, aber nur die Spitze des Eisbergs: Der mangelhafte Geschlechtermix in den Technik- und Ingenieursberufen hat erhebliche systemische, soziale und wirtschaftliche Auswirkungen, die noch immer stark unterschätzt werden. Wir wollen alle Gruppen auf allen Ebenen repräsentieren, damit die Sammlung und Nutzung von Daten, Algorithmen, klinische Studien und technologische Innovationen einen Beitrag für eine inklusive und tolerante Gesellschaft leisten. Indem wir unsere Teams diversifizieren, gewährleisten wir eine bessere Innovationsfähigkeit und Resilienz. Indem wir eine offene Kultur fördern, in der alle Profile willkommen sind und die Diversität wie ein Reichtum geschätzt wird, garantieren wir unseren Unternehmen Leistung, Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit.
Heute haben sich zahlreiche Organisationen dieser Problematik angenommen und engagieren sich in Schulen, aber auch über ausserschulischen Programme, um die Grenzen zu verschieben. Von den Hochschulen und den ETHs (Coding Club for Girls, FHNW Förderung der ICT-Berufswahl von Mädchen) bis hin zu privaten oder Vereinsinitiativen (IT Feuer, ICT Scouts/Campus, Girls can Code), – die Liste ist nicht erschöpfend! – die Programme zur Unterstützung des Interesses der Mädchen an den MINT-Disziplinen vervielfältigen sich.
Die Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften SATW hat sich bei der Einführung von Swiss TecLadies 2018 auf die Schlussfolgerungen ihres MINT-Barometers für den Nachwuchs von 2014 gestützt. Das Ziel ist die Begleitung von etwa 100 jungen Mädchen im Alter von 13-16 Jahren über ein intensives Mentoring-Programm während eines Schuljahres. Die Mentorinnen vermitteln ihre Leidenschaft für ihren Beruf und beraten und ermutigen ihre Mentees. Ein vollständiges Programm von Workshops zur Erkundung der Vielfalt der technischen Berufe ergänzt dieses Angebot, das sich auf drei Säulen stützt: Eine dauerhafte Begleitung, Identifikation mit Vorbildern und Stärkung des Selbstbewusstseins.
Seine Entscheidungen bewusst treffen, Zugang zu einem Netzwerk von erfahrenen Frauen haben, aber auch Mädchen treffen, die eine gemeinsame Leidenschaft für Programmierung oder Handwerksarbeiten teilen: All dies trägt dazu bei, ihnen Lust und Mut zu machen und ihnen zu zeigen, dass alles möglich ist! Selbstverständlich spielt das unmittelbare Umfeld, Eltern, Lehrer/innen usw., eine entscheidende Rolle bei der Orientierung ihrer Kinder und Schüler. Es gehört also zu den wichtigsten Zwecken des Programms, sie für die Konstruktion von Stereotypen zu sensibilisieren.
Niemals hat es so viele Fördererinitiativen für den weiblichen Nachwuchs in den MINT-Disziplinen gegeben, und wir begrüssen diesen Trend. Wenn wir unsere Synergien stärken und uns über die guten Praktiken austauschen, vergrössern wir unseren Einfluss und bewirken eine nachhaltige Veränderung der Mentalitäten. Wir möchten den Trend umkehren und rufen zu einer Vereinigung aller beteiligten Akteure aus Politik, Industrie und Ausbildung auf. Unser Ziel: Es möge in einer hoffentlich nicht allzu fernen Zukunft keine Notwendigkeit mehr für Mentoring-Programme und Workshops nur für Mädchen geben. Die Frauen müssen die Welt von morgen mit aufbauen, die Frauen „haben überall dort ihren Platz, wo Entscheidungen getroffen werden“, würde Ruth Bader Ginsburg sagen. Die Voraussetzung dafür ist ihre Präsenz in allen MINT- Disziplinen auf allen Ebenen.
Hoffen wir, dass Swiss TecLadies und die anderen ähnlichen Initiativen irgendwann obsolet werden! Und engagieren wir uns bis dahin weiterhin für eine Gesellschaft, in der für ein junges Mädchen von 14 Jahren wirklich alles möglich ist.
Edith Schnapper
Projektleiterin Nachwuchsförderung - Romandie
Tel. +41 44 226 50 26
edith.schnapper(at)satw.ch
Beitrag erschienen auf Heidi News am 9. April 2021 und aus dem Französischen übersetzt.