Autor: Hans‐Peter Meyer, Expertinova AG, SATW Mitglied, Leiter Wissenschaftlicher Beirat
Defossilierung heisst, die fossilen Kohlenstoffquellen mit Alternativen zu ersetzen oder mindestens die Nachfrage zu reduzieren. Das kann durch Kreislaufwirtschaft, Kohlendioxid als Rohstoff und Kohlenstoff aus Biomasse geschehen. Für die Zukunft der Menschheit ist Nachhaltigkeit in allen Bereichen unumgänglich, und die Defossilierung, sprich, die Abkehr von Öl, Gas und Kohle drängt. Dabei ist diese Aufgabe gigantisch. 1859 wurden in Pennsylvania (USA) die ersten kommerziellen Ölbohrungen durchgeführt. Heute verbrauchen wir weltweit rund 90 Millionen Fass Öl, und die Schweiz führte 2021 rund 22'000 Tonnen Rohöl und Rohölprodukte ein – pro Tag!
Leider ist der Ersatz von Öl, Gas und Kohle mit biogenen Energie- und Rohstoffträgern bei einer wachsenden Bevölkerung und schwindenden Agrarflächen eine schier unlösbare Herausforderung. Knapp 0,18 Hektaren landwirtschaftliche Fläche hat der Mensch heute pro Kopf global zur Verfügung. Vor 50 Jahren waren es noch über 0,28 Hektaren. Damit bleibt die Öl- und petrochemische Industrie systemrelevant.
Die Ölnachfrage erreichte 2019 mit etwa 100 Millionen Barrel pro Tag ihren Höhepunkt. Was eigentlich eine gute Nachricht ist, aber auch Risiken birgt. Wegen der schwindenden Agrarflächen (absolut und pro Kopf) werden wir noch lange von fossilen Rohstoffen abhängig sein. Denn obwohl der Bedarf an fossilen Ausgangsstoffen im Chemiesektor seit Jahren relativ und absolut zunimmt, wurden in den letzten zehn Jahren die Investitionen in der Industrie zurückgefahren. Das birgt das Risiko, dass die Defossilierung, besonders während einer Übergangsphase, von ungeordneten Anpassungen und Lieferengpässen begleitet wird.
Für Öl, Gas oder Kohle als Energieträger stehen heute viele nicht biogene und nachhaltige Alternativen zur Verfügung wie Photovoltaik, Wind und Geothermie und möglicherweise auch neue Nuklearreaktor-Konzepte. Es ist auch möglich, Biotreibstoffe mit verschiedensten Verfahren herzustellen, allerdings nur für ausgewählte Nischenmärkte wie z. B. Luftfahrtkraftstoffe.
Die chemische Industrie ist weltweit für 14 Prozent des globalen Erdöl- und 8 Prozent des Erdgasverbrauchs verantwortlich, da Chemikalien zu 90 Prozent aus Öl und Gas hergestellt werden. Der Rest stammt aus Kohle und Biomasse. Die Bandbreite der produzierten chemischen Produkte reicht von Primärchemikalien mit riesigen Volumina wie Ethylen, Propylen, Ammonium und Methanol) über Plastik bis hin zu den komplexesten organischen Molekülen mit Dutzenden von chiralen Zentren, die teilweise in sehr kleinen Mengen hergestellt werden.
Etwa hundert Jahre nach dem Beginn der kommerziellen Bohrung in Pennsylvania durch Edwin L. Drake begann die industrielle Produktion von Kunststoffen. Deren Nachfrage ist schneller gewachsen als nach jedem anderen Produkt und hat sich seit der Jahrtausendwende fast verdoppelt auf über drei Milliarden Barrel (1 Barrel = 159 Liter) pro Jahr. Kunststoffe sind ein wichtiger Treiber der petrochemischen Nachfrage, und bis 2050 könnte die Ölnachfrage im Zusammenhang mit dem Kunststoffverbrauch die des Strassenpersonenverkehrs übertreffen.
Es gibt etwa 900 Schweizer Chemiefirmen, wobei die meisten als KMU im Verkauf und Vertrieb von Chemikalien tätig sind. Nur ein kleiner Teil entwickelt und produziert Produkte. Aber alle produzierenden Chemiefirmen in der Schweiz haben ähnliche Herausforderungen und müssen sich immer stärker einem harten internationalen Wettbewerb stellen.
Die wichtigsten Optionen, die für nachhaltigere Prozesse und Defossilierung zur Verfügung stehen, sind:
Die Innovation und Entwicklung neuer Technologien ist für die Defossilierung entscheidend. Auch für die organische Chemie, welche sich seit ihren Anfängen vor 200 Jahren zu einer unverzichtbaren industriellen Tätigkeit entwickelt hat und heute die komplexesten Strukturen synthetisieren kann. Allerdings mit einem riesigen Nachteil: je komplexer die Strukturen, umso grösser di Process Mass Intensity (kurz: PMI, Masse Einsatzmaterials/Masse Produkts) und E-Faktor (E = produzierter Abfall/produziertes Produkt). Letzterer kann im Extremfall tausend oder noch höher sein: Das heisst, pro Kilogramm Produkt fällt rund eine Tonne Abfall und Nebenprodukte an.
Lebende Organismen und deren Enzyme hingegen sind prädestiniert für die Synthese komplexester und hochwertiger Moleküle. Neue Verfahren müssen auf Biosynthese, Biokatalyse und Biotransformation zugreifen, da komplexe und hochwertige Moleküle sich biotechnologisch fast immer um ein Vielfaches effizienter herstellen lassen. Die Implementierung biotechnologischer Methoden muss deshalb viel schneller vorangetrieben werden.
Etwa 20 Prozent der pharmazeutischen (kleinen) Moleküle und 30 Prozent der agrochemischen Produkte sind halogeniert (F, Cl, Br, I). Die chemische Halogenierung ist zwar eine etablierte Technologie, aber es kommen gefährliche oder giftige chemische Stoffe zum Einsatz, und die Atomökonomie als auch die Spezifität sind gering. Die pharmazeutische und die agrochemische Industrie haben also ein gemeinsames Interesse an der Entwicklung einer nachhaltigeren Halogenierungschemie.
Die Reduktion des Rohstoffverbrauchs ist in der chemischen Industrie wahrscheinlich ausgereizt, da die Prozesse laufend optimiert wurden. Die Industrie wendet schon seit geraumer Zeit eigene Leitlinien für nachhaltige Verfahren an wie z. B. 12 Principles of Green Chemistry und Responsible Care.
Dagegen besteht für die Energieversorgung Anpassungsbedarf. Während der Primärenergieverbrauch der Schweiz trotz steigender Einwohnerzahlen und Bedürfnissen aus verschiedenen Gründen abnimmt, wird beim zukünftigen Elektrizitätsbedarf ein Anstieg erwartet (E-Mobilität, Heizung, Kühlung, zunehmende Digitalisierung etc.).
0,017 Prozent der von der Sonne pro Jahr gelieferten Energiemenge würden den globalen Energiebedarf von 944’444'400 Terrawattstunden decken. Professorin Greta Patzke von der Universität Zürich und SATW Mitglied möchte deshalb Sonnenenergie chemisch speichern und mit künstlicher Photosynthese Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegen.
Dem Wasserstoff kommt eine Schlüsselrolle zu. Für die Hydrolyse des Wassers zu Wasserstoff braucht es jedoch effiziente Lösungen für nachhaltigen Strom. Hier entwickeln die CSEM und EPFL neue Tandemzellen aus Silizium und einer Perowskit-Schicht mit einem Wirkungsgrad von 31,25 Prozent. Zum Vergleich, der Weltrekord für Silizium-Solarzellen liegt derzeit bei 26,8 Prozent (theoretisch möglich sind 29,4 Prozent).
Die einzige nennenswert nutzbare Biomassequelle, welche die Lebens- und Futtermittelproduktion nicht tangiert, ist der Rohstoff Holz. Die für die Schweiz zugänglichen Wertschöpfungsketten einer holzbasierten Bioökonomie beschränken sich aber auf eine herkömmliche Holznutzung, weshalb Schweizer Holz als Rohmaterialbasis z. B. für Chemikalien kaum infrage kommt.
Methanol ist mit nahezu 100 Kilogramm Wasserstoff pro Kubikmeter das beste Wasserstoffspeichermedium, ein wichtiger C1-Baustein für Basischemikalien (z. B. Formaldehyd, Ethylen, Propylen) und mit einer jährlichen Produktion von 100 Millionen Tonnen nach Erdöl auch die weltweit meistgehandelte Flüssigkeit. Methanol ist auch einer der geeignetsten Kandidaten für eine nachhaltige Defossilierung ohne Nebenwirkungen, da das Kohlendioxid der Atmosphäre entnommen und in Methanol und andere Produkt umgewandelt werden kann. Die Schweiz kann auch für diesen Weg mit innovativen Lösungen beitragen.
Für die Umwandlung von Kohlendioxid (CO2) und Wasserstoff (H2) zu Methanol (CH3OH) entwickelte die Gruppe um Professor Javier Pérez-Ramírez von der ETH Zürich einen neuen Katalysator (Pd-In2O3/ZrO2). Silent Power AG mit Sitz in Cham plant unter anderem mit dem Minikraftwerk Econimo, aus H2O und nachhaltigem Strom einen Methanolkraftstoff lokal herzustellen. Ein weiteres Schweizer Unternehmen, Climeworks, wurde als ETH-Spin-off 2009 gegründet, um CO2 aus der Umgebungsluft zu gewinnen. Das CO2 kann in basaltischen Gesteinsschichten gespeichert (Air Capture and Storage, DAC+S) oder möglicherweise direkt als Rohmaterial weiterverwendet werden.
Wir haben in der Schweiz eigentlich die besten Voraussetzungen, um eine Defossilierung so reibungslos wie nur möglich zu gestalten. Die grössten Unternehmen der Schweiz sind Rohstoffhändler – mit dem Genfer Erdölhändler Vitol an der Spitze. Die Chemie und Biotechnologie liefern mit Abstand den grössten Exportbeitrag der Schweiz und die Hochschulen arbeiten an relevanten Fragen.
Die SATW plant für Anfang 2024 einen runden Tisch, um die verschiedenen industriell relevanten technologischen Entwicklungen zu besprechen und um eine Grundlage für eine Defossilierung ohne Nebenwirkungen zu formulieren. Interessiert Sie das Thema? Dann kontaktieren Sie uns!
Hans‐Peter Meyer, Expertinova AG, SATW Mitglied, Leiter Wissenschaftlicher Beirat