Die Bewältigung der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. So ist das Schweizer Forschungszentrum CSEM Partner der europäischen Raumfahrtagentur. Gemeinsam mit dem Schweizer Start-up Vexatec AG und dem italienischen Spital Sacco in Mailand wird zur Überwachung von Covid-19-Patientinnen und -Patienten mit Astronauten erprobte Raumfahrttechnologie eingesetzt.
Tragbare Gesundheits-Geräte, sogenannte «wearables», sind in den letzten Jahren vor allem als Sport- und Lifestylegeräte auf den Markt gekommen. Diese niederschwelligen Anwendungen sind aber weit vom medizinischen Potenzial entfernt, das diese tragbaren Geräte dereinst einnehmen werden. Die SATW sprach mit Jens Krauss vom CSEM über den Einsatz von «wearables» zur Fernüberwachung von Covid-19-Patientinnen und -Patienten und über das Potenzial von «medical wearables».
Herr Krauss, erzählen Sie von COMO – Worum geht es in diesem Projekt?
COMO ist die Abkürzung für «COronavirus remote MOnitoring of outpatients with heart rate, breathing rate and skin temperature». Dieses Projekt ist eine Reaktion auf die Coronavirus-Pandemie in Italien und wird von der Europäischen Weltraumorganisation ESA gefördert. Dank diesem Pilotprojekt können Covid-19-Patientinnen und -Patienten mit kardiovaskulären und respiratorischen Komplikationen zu Hause bleiben und auf Distanz überwacht werden. Das Ziel ist klar: Das italienische Gesundheitssystem soll entlastet werden. Deshalb ist das COMO-Projekt kein Forschungs-, sondern ein Demonstrationsprojekt. Es soll zeigen, welchen Beitrag medizinische Wearables zur Behandlung von Covid-19-Patientinnen und -Patienten leisten können.
Warum wird dieses Projekt in Zusammenarbeit mit einem italienischen Spital durchgeführt?
Die ESA hat in Kooperation mit der italienischen Raumfahrtagentur ASI im März 2020 einen Aufruf zu Pilotprojekten lanciert, um mittels des Einsatzes von Raumfahrttechnologien die Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie in Italien zu bekämpfen.
Mit Wearable-Technologien, die am CSEM entwickelt wurden, um die Gesundheit von Astronauten zu überwachen, können Vitalparameter der Patienten in Echtzeit übertragen werden. Diese Fernüberwachung ermöglicht es dem Pflegepersonal, die Entwicklung der Covid-19-Patientinnen und -Patienten auf Distanz zu beobachten.
Warum engagiert sich die ESA als Raumfahrtagentur in einem Projekt, in dem um Pandemiebekämpfung geht? Was verspricht sich die ESA davon?
Die ESA ist das europäische Tor zum Weltraum. Deren wissenschaftliche Projekte zielen nicht nur auf die Erforschung der Erde und des Universums ab. Die ESA unterstützt mit der Entwicklung von satellitengestützten Technologien und Dienstleistungen zahlreiche europäische High-Tech-Industrien zur Lösung der grossen gesellschaftlichen und klimatischen Fragestellungen unserer Zeit. Die Coronavirus-Pandemie stellt eine weltweite Bedrohung dar und kann nur gelöst werden, wenn alle Technologie-Stakeholder zusammenstehen und diese Herausforderung gemeinsam anpacken.
Wie lange dauert COMO – und wie läuft ein solches Demonstrationsprojekt ab?
Das Demonstrationsprojekt hat eine Laufzeit von 12 Monaten und wurde im August dieses Jahres gestartet. Nach einer Bedarfsanalyse, einer Integration der einzelnen Serviceblöcke und ersten erfolgreichen Patiententests befindet sich das Projekt nach drei Monaten in der Phase der Prozessintegration seitens des Sacco Universitätsspitals in Mailand. Unter der Leitung von Prof. Maurizio Viecca wird auf Ende 2020 eine breit angelegte klinische Studie mit mehr als 350 Covid-19-Patientinnen und -Patienten am Universitätsspital Sacco in Mailand durchgeführt. Sobald wir für das Studienprotokoll grünes Licht von der Ethikkommission des Spitals erhalten, sollte die Pilotstudie spätestens anfangs 2021 starten.
Welche Fragen leiten das Projekt?
Mit dieser Pilotstudie soll die Wirksamkeit von «medical wearables»-Technologien bei der Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie bestimmt werden. Leitende Fragen sind: Wie können diese «medical wearables» die Pflege und Betreuungsaufwand entlasten? Wie müssen diese «medical wearables» in den Arbeitsprozess des Pflegepersonals und der Ärzteschaft integriert werden? In welche Richtungen müssen diese «medical wearables», z.B. betreffend Komfort, Unterhalt und Präzision, weiter optimiert werden?
Am Ende des Projektes wird das Projektkonsortium die technischen Spezifikationen eines zukünftigen medizinischen Produktes definieren, das die Anforderungen an eine Patientenüberwachung auf Distanz erfüllt. Parallel zum Pilotprojekt läuft die Produkteentwicklung, welche später vom Schweizer Start-up Vexatec AG vermarktet wird.
Was verspricht sich das CSEM von diesem Projekt?
Seit der Gründung in den 1980er-Jahren liegt der Fokus des CSEM im Bereich der Mikroelektronik und der -technologie. Low-Power-Technologien sind Teil unserer DNA. Deshalb gehören Arbeiten an miniaturisierten und tragbaren Sensoren, die zur Überwachung der Vitalparameter dienen, also sogenannte «wearable»-Technologien, seit mehr als 20 Jahren zu unseren strategischen Forschungsaktivitäten. Schon im Jahr 2004 entwickelte das CSEM im Auftrag der ESA ein «wearable»-Konzept zur Überwachung des Gesundheitszustandes von Astronauten. Daraus resultierte das LTMS System (Long-Term-Medical-Survey). Dieses misst mittels drei Körperkontakten eine Vielzahl verschiedener Vitalparameter. Dieses System wurde bereits im Rahmen mehrerer Studien und in Tests mit Astronauten klinisch geprüft.
Was trägt das CSEM zu diesem Projekt bei?
In den vergangenen 10 Jahren hat das CSEM dieses LTMS-Konzept weiterentwickelt und wurde für bestimmte Anwendungen weiter angepasst. So zum Durchführen eines Langzeit-EKGs mit einem Holter-Systeme, zur Messung der Lungenfunktion, zur Messung der Hautspannung mittels der elektrischen Impedanz-Tomographie, usw. Im Jahre 2015 wurde ein erstes Produkt für sportmedizinische Anwendungen lanciert, das auf dieser sogenannten «kooperativen Sensortechnologie» basiert. Diese intelligente Textiltechnologie kommt nun im COMO-Pilotprojekt zum Einsatz, um den letzten Schritt mit der Vexatec AG hin zu einem medizinisch geprüften Monitoring-Produkt zu machen.
Eines Tages wird diese Pandemie vorüber sein. Welches Potenzial haben «wearables» nach der Pandemie?
Die «medical wearables» haben über Sport, Fitness und Wellness-Bereich Einzug in unser tägliches Leben Einzug gehalten. Die «wearables» spielen eine fundamentale Rolle bei der digitalen Transformation unseres Gesundheitswesens. Die grossen Technologiekonzerne wie Apple, Google, Amazon und Facebook stossen mit präventiven Gesundheits-Tools immer weiter in den traditionellen Markt der Medizintechnik und werden mittels solcher «medical wearables» das Gesundheitswesen revolutionieren. Dabei werden dem Benutzer Geräte, Apps und Daten zur Verfügung gestellt, um sich um seine eigene Gesundheit zu kümmern: Der Gesundheitsmarkt wird demokratisiert und die Kosten werden massiv reduziert. Die traditionellen Medizinaltechnikunternehmen werden sich dieser Entwicklung fügen und an die Digitalisierung des Gesundheitswesens anpassen müssen oder sie werden schlicht und einfach verschwinden.
Und in welchen Bereichen der Medzin sehen Sie besonderes Potential?
Die alternde Bevölkerung sowie die Explosion der Gesundheitskosten stellen eine grosse Herausforderung für ein gut funktionierendes Gesundheitswesen dar. Die «medical wearables» sind eine Antwort darauf, wie eine präventive und kostengünstige Gesundheitsversorgung gestaltet werden könnte. Wichtige, potentielle Einsatzgebiete sind die Intensivmedizin, die Unfallmedizin, aber auch in der Diagnostik, dies zeigt auch das COMO-Demonstrationsprojekt. «Medical wearables» werden zukünftig in allen drei Bereichen eine zentrale Rolle spielen. Weitere Einsatzbereiche betreffen die Rehabilitation, z.B. mit einfach zu handhabenden Holter-Systemen. Bei der Entwicklung von Medikamenten, um grossangelegte klinische Studien durchzuführen, können sie ebenfalls eine wesentliche Rolle spielen.
Woran arbeitet das CSEM sonst noch in diesem Bereich?
Ein gutes Beispiel ist die Behandlung von Bluthochdruck, dem sogenannten «silent killer». Mit einer kontinuierlichen Überwachung des Blutdruckes kann dieser gut gemanagt werden: Weiss eine Patientin um den erhöhten Bluthochdruck, kann der Lebensstil angepasst werden. Das CSEM arbeitet mit den Schweizer Start-ups Aktiia und Biospectal zusammen, die besagte kontinuierliche Blutdruckmessung ohne Manschette kommerzialisieren. Der Ansatzpunkt dafür ist die sogenannnte oBPM-Technologie (optical Blood Pressure Monitoring). So kann z.B. mit einer App auf dem Smartphone der Blutdruck einfach, genau und zu jeder Zeit komfortabel gemessen werden. Die Daten werden an die Cloud gesendet, wodurch ein Trend und der Einfluss von anderen Parametern, etwa dem Verhalten, abgebildet werden kann.
Jens Krauss leitet die Abteilung Systeme am CSEM. Die Abteilung beschäftigt mehr als 100 Wissenschaftlerinnen und Ingenieure und ist Teil der strategischen Forschungsaktivität Medizintechnik und wissenschaftliche Instrumente. Sein Fachwissen auf dem Gebiet der Überwachung menschlicher Vitalparameter und der mobilen Patientengesundheit hat zu einer Reihe von Schlüsselpatenten, erfolgreichen Technologietransfers und Neugründungen geführt. 1991 schloss er sein Studium der Ingenieurwissenschaften an der ETH ab. Danach absolvierte er einen zweijährigen Forschungsaufenthalt am Politecnico di Milano, Italien. Zurück an der ETH leitete Jens Krauss das biomechanische Software-Team der bemannten Raumfahrtmission TVD der ESA. 1996 wechselte er zum CSEM. Von 2012 bis 2015 präsidierte Jens Krauss die Schweizerische Gesellschaft für Biomedizinische Technik (SGBT).
Jens Krauss ist auch Autor für den Technology Outlook 2021, der im kommenden Frühjahr zum vierten Mal erscheinen wird. Der Technology Outlook ist der Früherkennungsbericht der SATW, der neue disruptive Technologien präsentiert und deren Kompetenz in der Schweiz sowie deren volkswirtschaftliche Bedeutung bewertet. Bestellen Sie schon heute Ihr Exemplar des Technology Outlooks 2021 - als PDF oder in gedruckter Form.
Covid-19 wird uns noch eine Weile beschäftigen. Die zweite Welle der Pandemie hat die Schweiz erreicht und es wird den Einsatz von uns allen brauchen, um den Winter gut zu überstehen. Auch Technologie kann und soll ihren Beitrag leisten und die SATW agiert dabei als «Honest Information Broker». Deshalb haben wir www.satw.ch/covid-19 aufgebaut. Auf dieser Webpage finden Sie Beiträge von ausgewiesenen Expertinnen und Experten aus unserem Netzwerk zu technischen Themen und Covid-19 – wie das Interview mit Jens Krauss.