Nachruf Prof. Dr. Urs Hochstrasser, Mitglied der SATW

Am 12. Januar 2025 durfte Urs Hochstrasser seinen 99. Geburtstag feiern – ein bewegender Moment, den er, trotz gesundheitlicher Einschränkungen, noch im Spital erleben konnte. Nur wenige Tage später, am 21. Januar, verstarb der visionäre Wissenschaftler, der als „Geburtshelfer der Atomenergie“ in der Schweiz in die Geschichte einging. Mit seinem Tod verliert die Schweiz nicht nur einen herausragenden Experten, sondern auch einen Menschen, dessen Leben und Wirken untrennbar mit der Entwicklung der Atomenergie und der Wissenschaftspolitik des Landes verbunden sind.

In den 1950er-Jahren sah sich die Schweiz mit einer enormen Herausforderung konfrontiert: Der Stromverbrauch verdoppelte sich innerhalb eines Jahrzehnts, und die Wasserkraft stiess an ihre Grenzen. Inspiriert von Präsident Eisenhowers Initiative „Atoms for Peace“ (1953) erkannte Urs Hochstrasser früh die Potenziale der Atomenergie. Als ETH-Atomphysiker und Computerspezialist wurde er 1955 ans Bureau of Standards in Washington berufen. Neben seiner Tätigkeit als Assistenz-Professor an der American University in Washington und als Associate Professor an der Universität Kansas baute er das Rechenzentrum sowie die Informatikausbildung in Kansas massgeblich mit auf.

Seine internationale Erfahrung machte ihn zu einem gefragten Experten: Im Januar 1957 trat das bilaterale Abkommen zwischen der Schweiz und den USA über die friedliche Nutzung der Atomenergie in Kraft. Urs Hochstrasser wurde als erster Wissenschaftsrat der Schweizer Botschaft in Washington eingesetzt und war damit der erste Wissenschaftsrat im Schweizer Diplomatischen Dienst. Vier Jahre später wählte ihn der Bundesrat zum „Atomdelegierten“ – eine Pionierrolle, die er mit Weitblick und Entschlossenheit ausfüllte.

Besonders prägend war sein Einfluss auf den Ausbau der Kernenergie in der Schweiz. Er überzeugte Bundesrat Spühler, die EWs (Elektrizitätswerke) dazu zu bewegen, die Zwischenstufe von Ölkraftwerken zu überspringen und direkt mit dem Bau von Kernkraftwerken zu beginnen. Für Urs Hochstrasser stand schon damals aus Umweltschutzgründen die saubere Atomenergie im Vordergrund. Sie stösst im Gegensatz zu Öl kein Schwefeldioxid und fast kein CO2 aus und kann jederzeit zusammen mit der Wasserkraft die Stromversorgung der Schweiz sicherstellen.

Die erfolgreiche Bestellung des ersten Reaktors für Beznau durch die NOK in den 1960er-Jahren war ein entscheidender Meilenstein, und 1969 war Urs Hochstrasser ein stolzer Gast bei der Einweihung des Kernkraftwerks Beznau, das heute als weltweit ältestes noch in Betrieb ist.

Neben seiner Rolle als Förderer der Atomenergie war Urs Hochstrasser auch eine Schlüsselfigur bei der Entwicklung von Bewilligungsverfahren und Sicherheitsstandards für atomare Anlagen. Seine Doppelrolle – als Treiber der neuen Technologie und als Aufsichtsperson – wäre heute kaum vorstellbar. Dennoch genoss er das Vertrauen seiner Zeitgenossen und vertrat die Schweiz in internationalen Organisationen wie der IAEO, der NEA und bei Projekten wie Dragon und Eurochemic. Bis zu seinem Tod blieb sein Vertrauen in die Sicherheit der Schweizer Kernkraftwerke ungebrochen.

Doch Urs Hochstrassers Engagement ging weit über die Atomenergie hinaus. Mit der Gründung des Wissenschaftsrates, der Abteilung für Wissenschaft und Forschung, und der Ergänzung des Hochschulförderungsgesetzes (HFG) prägte er die Wissenschafts- und Forschungspolitik der Schweiz. Ab 1969 leitete er im Eidgenössischen Departement des Innern die neue Abteilung für Wissenschaft und Forschung, das spätere Bundesamt für Bildung und Wissenschaft. Bis zu seiner Pensionierung 1989 verantwortete er die Formulierung und Umsetzung einer kohärenten Wissenschaftspolitik. Dabei war nicht jeder Erfolg garantiert: Der Bildungsartikel scheiterte in der Volksabstimmung am Ständemehr, doch viele seiner Visionen leben in der heutigen Bildungs- und Forschungslandschaft weiter.

Sein wissenschaftliches Erbe bleibt auch in schwierigen Momenten sichtbar. Die politische Reaktion auf den Unfall von Fukushima 2011 kritisierte Urs Hochstrasser scharf: „Wäre das baugleiche Kernkraftwerk Mühleberg in Fukushima gestanden, hätte die Katastrophe verhindert werden können.“ Selbst im hohen Alter von 91 Jahren setzte er sich 2017 aktiv gegen das Energiegesetz mit dem Verbot neuer Kernkraftwerke ein. Noch im Dezember 2024 konnte er erfahren, dass sich neue Entwicklungen anbahnen, die seine
Überzeugungen bestätigen – eine kleine Genugtuung für sein lebenslanges Engagement.

Seine Kolleginnen und Kollegen schätzten nicht nur seinen Intellekt, sondern auch seine menschliche Wärme und seine Leidenschaft für die Wissenschaft. Urs Hochstrasser war ein Mann, der nicht nur visionär dachte, sondern auch tatkräftig handelte – ein Vorbild für Generationen von Wissenschaftlern.

Die SATW trauert um einen aussergewöhnlichen Wissenschaftler und Visionär. Urs Hochstrassers Leben war geprägt von einer tiefen Überzeugung für die Kraft der Wissenschaft, die er nicht nur in die Energiepolitik, sondern auch in die Gestaltung der schweizerischen Bildungs- und Forschungslandschaft einbrachte. Sein Wirken hinterlässt bleibende Spuren, und sein Vermächtnis wird künftige Generationen inspirieren.